Damals, im Jahr 512 vor Christus, war mein Herz noch warm und meine Haut bronzen vom Licht Karthagos. Ich war Magon, Sohn des Acherbal und der Astartid, geboren unter dem flimmernden Himmel einer Stadt, die zwischen Glanz und Schatten lebte. Mein Weg war früh bestimmt: Ich wollte Wache sein – nicht für die Stadt, nicht für Händler oder Fürsten, sondern für die Göttin selbst. Tanit, die große Mutter, der weibliche Stern am Firmament.
Ich erinnere mich noch an die erste Nacht im Tempel. Der Duft von Weihrauch lag schwer in der Luft, gemischt mit dem metallischen Geschmack von Bronze und Stein. Über allem thronte Yaton-Tanit, Hohepriesterin und lebendige Vertreterin unserer Göttin. Ihre Stimme war ruhig, doch jeder Laut trug das Gewicht von Jahrhunderten. Sie nahm mich auf – nicht bloß als Wächter, sondern als Schüler, als Werkzeug in der Hand des Göttlichen. Ich war nicht würdig. Und doch war ich bereit.
Sie wurde mir über die Jahre zur Mentorin, und ihre Gegenwart war wie die kühle Hand auf der Stirn eines Fiebernden – beruhigend, fordernd, unausweichlich. Ich lernte nicht nur, wie man mit der Waffe wacht, sondern wie man mit Würde schweigt, wie man beobachtet, ohne zu richten. Und wie man das Göttliche erkennt, selbst im Schweigen der Steine. In ihrer Nähe wuchs ich über mich hinaus. Dies war mein erstes wichtigstes Erlebnis in meinem noch so langen Leben.
Großteil meines noch vor mir liegenden Weges, ist zu oft mit Einsamkeit erfüllt. Zwischen den Zeitaltern huschten Begleiter, Freunde, Feinde… und Geliebte vorbei. So wie damals.
Gisgar, mein Freund aus Kindertagen, war mir als treuer Freund selbst die vielen Jahren danach geblieben. Während ich die Stufen des Tempels erklomm, stand er in seiner Werkstatt und schlug Eisen zu Sinn. Zur Aufnahme in den Tempeldienst überreichte er mir einen Dolch, von seiner eigenen Hand geschmiedet. Er sagte wenig dabei, aber ich sah in seinem Blick mehr Stolz, als Worte hätten tragen können. Ich trug diese Waffe bei mir wie einen Teil meines Körpers.
Und dann war da Amital. Sie war weder Priesterin noch Kriegerin, und doch trug sie eine eigene Art von Macht in sich – sanft, beständig, unverrückbar wie das Licht, das durch einen Vorhang fällt. Wenn sie lachte, war es, als würde der Wind plötzlich stillstehen. Wir teilten Erinnerungen, Kinderspiele, heimliche Fluchten in die Ecken der Stadt. Ich sagte ihr nie, was ich fühlte. Vielleicht war das ein Fehler. Vielleicht auch nicht. Gefühle, so lernte ich später, können zu Ketten werden.

Meine ersten Tage als Wache waren unspektakulär – bis zu jener Nacht. Drei vermummte Gestalten versuchten, sich Zugang zum inneren Heiligtum zu verschaffen. Ich spürte es, bevor ich sie sah – als zöge etwas meine Aufmerksamkeit wie ein Strom durch mein Rückgrat. Ich war schneller als meine Gedanken. Zwei von ihnen lebten danach nicht mehr, der dritte floh mit einer klaffenden Wunde. Yaton-Tanit, die ihr Ziel war, blieb unversehrt. Seitdem nannte mich manche „Rach-El-Qart“ – die Klinge der Stadt. Es war ein Titel, den ich nicht suchte. Aber er klebte an mir wie Schatten in der Dämmerung.
In solchen Momenten hatte ich früher sehr um meine geistige Stabilität kämpfen müssen. Und in diesen Zeiten half mir mein Anhänger, den ich um mein Hals trug. Ich war noch ein Knabe gewesen, als ich den Händler zum ersten Mal sah – einen alten Mann mit ledriger Haut und kühlen Augen. An seiner Brust trug er stets einen kleinen, mondförmigen Stein aus Onyx – den Sichelstein von Qart-Hadasht. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich ihn angestarrt hatte, doch der Wunsch, ihn zu besitzen, brannte sich mir ein. Jedes Mal, wenn mein Weg mich an dem Markt vorbeitrug, ging ich den Umweg zum Händler und begutachtete den Stein. Zu dieser Zeit trafen mich die Worte des Händlers hart: „Der Anhänger ist unverkäuflich. Und denk bloß nicht daran, deine gierigen Finger nach ihm auszustrecken!“
Monate später änderten sich seine Worte, als er meine Ehre an mir erkannte: „Auch wenn ich ihn verkaufen würde; du hättest nicht genügend zum Tausch.“
Jahre später, mit Worten, die mehr Charme als Münze trugen, konnte ich ihn überzeugen und mein Angebot gefiel ihm. Vielleicht wegen den Lehren yaton-Tanits. Oder weil der Tod bereits an der Schwelle des Mannes klopfte und er etwas mehr Freude in der Welt zurücklassen wollte. Als er mir den Anhänger gab sagte er nur: „Der Stein wählt selbst.“ Ich lachte. Heute lache ich nicht mehr.
Denn in jener Nacht, die mich zerbrach und neu formte, spielte der Stein seine Rolle.

Es war Abd-Melqart, der mich fand. Ein Diener dunkler Götter, ein Kind des Clan Banu Haqim, ein Schatten in Menschengestalt. Er sagte, ich rieche nach Blut, das nicht fließen will, nach Schuld, die nie beglichen wurde. Er jagte mich nicht aus Hass – sondern mit Genuss. Ich rannte um mein Leben, als seien tausend Dschinns hinter mir her. Und als ich endlich fiel, war es nicht der Tod, der mich aufnahm.
Es war etwas weitaus Älteres.
Er opferte mich dem Ur-Shulgi, seinem toten Gott. Doch das Opfer war nicht mein Ende. Es war mein Beginn. Mein Blut versiegte, mein Herz verstummte – und seine leisen Worte brannten sich in mein Bewusstsein: „Du begabtes Menschenkind. Ziehe nun los und bringe Ur-Shulgi seine Opfer“.
Ich erwachte als etwas anderes.
Seitdem meide ich helle Orte und werde immer geschickter darin, mich zu schminken. Die Leichenblässe ist nicht für die Welt bestimmt. Ich salbe meine Haut mit wohlriechenden Ölen, bemale sie mit roter Erde, kaschiere das Grauen mit Farbe. Vielleicht glaubt man mir den Menschen noch, vielleicht auch nicht. Ich hoffe, es wird mir nie egal sein.
Ich bin Magon.
Werde ich es bleiben?
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