Zwei Jahre lebten wir nun in Gádir – der südlichsten Zunge des Festlands, wo das Meer das Land küsst und die Nächte schwer von Salz und Geschichten sind. Banhem und Hannoel hatten ihren Platz unter den Sterblichen gefunden: einfache Männer mit einfachen Aufgaben, unauffällig und nützlich. Ich hingegen war in dunklere Kreise eingetaucht, dorthin, wo das Blut fließt, wenn niemand hinsieht. Die vampirische Gesellschaft dieser Stadt war verschlossen, argwöhnisch, alt. Und obwohl mir ihre Zurückgezogenheit zuweilen gelegen kam, verlangsamte sie doch mein Vorankommen.
Aber was bedeutet Zeit noch für eine Kreatur wie mich?
Ich lernte, dass man nicht spürt, wie die Jahre vergehen – nur, dass sie Spuren hinterlassen. Narben. Schatten. Risse in der Erinnerung.
Um so schmerzlicher der Stich, wenn eine alte Erinnerung wiederkehrt.
Eines Nachts, als der Wind durch die Gassen Gádirs strich, sah ich ihn. Zuerst nur einen Schemen in der Ferne. Dann ein Gesicht. Eine Bewegung. Eine Stimme. Ich erstarrte.
Gisgo.
Ich hatte ihn getötet.
Und doch wandelte er durch die Straßen, als sei nichts geschehen. Ich beobachtete ihn aus der Dunkelheit heraus, zu starr vor Zweifel, zu verwirrt für Gewissheit. Er sprach mit Menschen. Fragte. Suchte. Nach mir. Nach Magon.
Schließlich trat ich aus den Schatten und stellte ihn zur Rede.
Sein Blick war vorsichtig, abwägend – doch nicht feindlich. Anfangs wich er meinen Fragen aus. Ich überzeugte ihn, sich mehr zu öffnen. Zamira, meine einstige Feindin, hatte ihn verwandelt. Direkt nach seinem Tod. Sie hatte ihn zu ihrem Werkzeug gemacht – um mich zu beobachten, zu finden, zu verstehen. Er wusste, warum ich ihn getötet hatte. Um ihn vor ihr zu retten. Und doch blieb ein Fragezeichen in seinem Blick. Kein Vorwurf. Keine Vergebung. Nur das Schweigen zwischen zwei Toten.
Ich fühlte nichts als Sinnlosigkeit. Alles, was ich zu erreichen geglaubt hatte, war nichtig. Mein Opfer war vergeblich. Zurück blieb nur die Narbe auf meiner Seele.
Er behauptete, er sei geflohen. Er habe überlebt. Ich glaubte ihm. Zumindest zum Teil.
Und es blieben Zweifel, die meinen Verstand umflackerten.

Der Zahn der Zeit ist ein grausamer Richter.
Unser Fluch besteht nicht nur aus Hunger und Licht. Er besteht aus dem Vergessen. Die Zeit löscht uns – nicht auf einmal, sondern schleichend. Sie frisst unsere Erinnerungen wie Motten alte Seide.
Manche Nächte erwache ich aus dem Tagesschlaf mit einer Leere im Kopf, als hätte jemand meine Gedanken gestohlen. Namen, Stimmen, Orte – sie entgleiten mir. Ich weiß, dass ich als Mensch schon vieles vergaß. Doch nun, nach Jahrzehnten, verschwinden ganze Kapitel meines Lebens.
Eine Nacht lang versuchte ich, mich an etwas zu erinnern. Etwas Bedeutendes. Ein Amulett? Ein Ort? Ein Versprechen? Ich weiß es nicht mehr. Nur die Leere blieb. Und ein schmerzlicher Verlust, dessen Form ich nicht mehr benennen kann.

Jahreszeiten wechseln wie im Fluge. Die Gesichter wandeln sich. Verbündete kommen, dienen, sterben.
Sterbliche sind nützlich. Aber sie sind auch eine Gefahr. Sie stellen Fragen. Sie lieben zu viel. Oder sie ahnen zu viel. Und wenn sie sterben, hinterlassen sie ein Loch, das man nicht füllen kann – nicht ohne Schuld.
Ich könnte ihnen mein Blut geben. Und damit ihr Leben verlängern. Doch ich habe gelernt, dass dieses Geschenk eine Kette ist. Sie werden abhängig. Hörig. Ihre Gedanken verformen sich. Sie verlieren sich in ihrer blinden Dienstbarkeit.
Ich könnte sie zu dem machen, was ich bin. Nur bin ich nicht soweit es zu ertragen, jemanden dem selben Fluch zu unterwerfen, der mich zerfrisst.
Ich erinnere mich an die ersten meiner Verbündeten, die bei mir waren. Banhem. Hannoel. Und an unsere Erlebnisse. Wobei ich mir nicht sicher bin, wie Wahr diese Erinnerungen noch sind und wieviel davon von meinem Unterbewusstsein selbst dazu gedichtet wurden.
nach ihnen kamen andere, deren Namen ich nicht mehr zu den richtigen Gesichtern zuordnen kann. Ihre Stimmen sind mir fremd geworden. Ihre Tode ein flüchtiges Echo.
Gisgo ist noch in der Stadt – glaube ich. Wir sprechen nicht mehr. Vielleicht, weil wir beide nicht wissen, wie wir mit der Vergangenheit umgehen sollen. Vielleicht auch, weil es nichts mehr zu sagen gibt. Seine Welt ist nicht mehr meine. Und ich weiß nicht, ob ich in seine Welt will.
Unsere Freundschaft war einst wie Granit. Heute ist sie Staub. Wie stark ist der Fluch noch, der auf uns lastet, wenn dieser selbst so eine tiefe Freundschaft und Verbundenheit wie Sand im Wind verwehen lässt.
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