Eintrag 02 | Schuld in der Nacht

Eintrag 02 | Schuld in der Nacht

Ich hatte es mir geschworen.

Ich würde nie werden wie er. Wie Abd-Melqart, mein Erzeuger, mein Fluchbringer. Ich hatte mir eingebildet, anders zu sein. Weniger kalt, weniger grausam. Doch als ich eines Nachts durch die dunklen Gassen Karthagos streifte, den Geruch von Angst in der Nase, da wusste ich: Der Hunger hatte mich längst auf die Jagd getrieben. Genauso wie Er mich einst gejagt hatte. Nur mit einem Unterschied – ich empfand keine Freude daran.

Ich betete, dass sich das niemals ändern würde.

Der Hunger war nicht mein einziger Feind. Früh schon hatte ich gelernt, wie tödlich die Sonne geworden war. Es war keine Geschichte aus staubigen Pergamentrollen – es war mein brennendes Fleisch, das mich belehrte. Schon die ersten Strahlen des Morgens genügten, um meine Haut zu röten, zu zerreißen, mich wimmernd in den Staub zu zwingen. Ich brauchte einen Ort, der mich schützte. Einen Ort, der mich kannte. Und es gab nur einen solchen Ort auf dieser Welt.

Der Tempel der Tanit.

Ich kehrte dorthin zurück – nicht als Wache, sondern als Schatten. Ich wusste nicht, wie lange ich noch unter Menschen verweilen konnte, ohne mich selbst zu verraten. Und so begann ich, in jenen ersten Nächten, mit bloßen Händen unter dem Tempel eine Kammer in die Erde zu graben. Kein Werkzeug, kein Plan. Nur Verzweiflung und die Angst, entdeckt zu werden. Die Arbeit war mühsam, schmerzhaft, endlos. Ich musste jeden Laut vermeiden, jede Tempelwache meiden, jedes Flüstern ignorieren, das mich aus der Tiefe rief.

Doch schließlich, mit geschundenen Händen und pochenden Gliedern, lag sie da – meine Kammer. Kaum mehr als eine Grube, feucht, kalt und still. Kein Ort des Trosts. Aber ein Ort zum Überleben. Und das war mehr, als ich verlangen konnte.

loch unterm tempel

Nacht für Nacht verstrich. Ich lag dort, eingekrümmt in der Finsternis, während mein Verstand kreiste wie ein aufgescheuchter Vogel. Was nun? Wie sollte mein Leben weitergehen, das doch gar kein Leben mehr war? Wie sollte ich meinen Freunden erklären, was aus mir geworden war? Und was war mit Abd-Melqart? War ich nun sein Werkzeug, sein Schatten, sein Sohn?

Der Hunger ließ keine Antwort zu. Er brüllte in mir, zwang mich, erneut hinauszuziehen – in die Stadt, die einst meine Heimat war, nun aber mein Jagdrevier wurde. Ich wollte es nicht. Ich hasste es. Und doch geschah es.

Es war wieder einer jener Männer, ein Räuber vielleicht, oder nur ein Pechvogel, der zur falschen Zeit am falschen Ort war. Ich holte ihn ein, schneller als ich es je als Mensch vermocht hätte. Ich sog sein Blut – nicht alles. Nicht mehr. Ich wusste jetzt, wie viel ich nehmen konnte, ohne zu töten. Ich hatte gelernt, meinen Fluch zu dosieren. Zu zügeln.

Und dann hörte ich ihren Ruf.

„Magon!“

Mein Name, gebrochen, fragend, voller Verzweiflung. Ich drehte mich um – instinktiv, noch immer mit dem Blut meines Opfers an den Lippen – und sah sie. Amital. Ihr Gesicht vom Mondlicht gezeichnet, ihre Augen geweitet. Entsetzen. Angst. Erkenntnis.

Ich hatte gehofft, sie würde mich niemals so sehen.

Meine Bemalung, die ich trug, um meine Leichenblässe zu verbergen, machte alles nur schlimmer. Im silbrigen Licht des Nachthimmels wurde ich zur Fratze. Und meine Fangzähne, entblößt im Moment der Überraschung, sprachen die Wahrheit aus, die ich zu verborgen versuchte.

Sie rannte. Natürlich rannte sie.

Und das Tier in mir – es sah nur ein Opfer. Es roch das Blut, das durch ihre Adern jagte. Und es wollte jagen. Ich schrie innerlich, flehte, bettelte, doch mein Körper gehorchte mir nicht mehr. Die Bestie, die ich geworden war, löste sich vom Menschen, der ich einst war.

Ich weiß nicht, wie lange ich lief. Nur, dass ich mich irgendwann über ihren leblosen Körper beugte. Ihre Wärme schwand unter meinen Fingern. Ihre Augen starrten ins Nichts. Und ich?

Ich schrie.

Mein Schrei hallte durch die Gassen, ein Tierlaut, geboren aus Trauer und Schuld. Blutige Tränen liefen über mein Gesicht, verwischten die Farbe. Das letzte Symbol meiner Menschlichkeit? Ich wollte es ungeschehen machen. Ich wollte zurück. Aber sie blieb tot.

magon erwischt mich

In den Nächten danach kroch ich zurück in meine Kammer, tiefer denn je. Die Dunkelheit war mein Gefängnis, mein Schutz, mein Grab. Die Sonne wurde zur Verlockung. Ich stellte mir vor, wie sie mich verbrennen würde – schnell, gnädig, endgültig. Mit dem leidvollen Schmerz, den ich verdiene. 

Ich versuchte, den Hunger zu unterdrücken. Ich wollte nie wieder töten. Doch das Tier in mir wartete nur. Und irgendwann, als das Zittern zu stark wurde, kroch ich wieder hinaus. Ich redete mir ein, nur zu jagen, nur um zu überleben, nur bis ich wieder stark genug war, um endgültig zu sterben.

Ich schlich durch die Schatten, lautlos wie Rauch. Ich sah im Dunkeln. Ich bewegte mich durch Karthago, als wäre ich ein Teil von ihr – ein dunkler Teil, den keiner benennen wollte. Ich wurde zu dem, was mein Erzeuger in mir gesehen hatte: ein Jäger. Ein Wesen der Nacht.

Ein Schatten.

Und die Dunkelheit? Sie begann mich zu umarmen! Es fühlte sich nach Dankbarkeit an. Dankbar, dass die Dunkelheit einen weiteren Jäger geschenkt bekommen hat. 

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