Ein halbes Jahr war vergangen. Sechs Monate im Schatten, sechs Monate voller Jagd, Angst und Schuld. Und doch auch sechs Monate des Lernens.
Ich hatte begonnen, mich zurechtzufinden. In der Dunkelheit, in meinem neuen Dasein, in einer Welt, die mich nicht kannte. Ich lernte, dass Einsamkeit Schutz sein konnte – aber auch ein langsamer Tod. Und ich begriff: In dieser Existenz war der Wert von Verbündeten größer als je zuvor.
Diese Lektion lernte ich durch Banhem und Hannoel – zwei alte Kameraden aus meiner Zeit als Tempelwache. Meine Abwesenheit hatte etwas in ihnen entfacht. Eifersucht vielleicht. Ehrgeiz. Beide drängten in die Lücke, die ich hinterlassen hatte. Ihre Freundschaft geriet ins Wanken, und schließlich stand ein Duell bevor. Ein Kampf auf Leben und Tod, um einen Titel, der längst bedeutungslos geworden war.
Ich konnte nicht zulassen, dass sie einander töteten – nicht für mich. In jener Nacht zeigte ich mich ihnen. Zum ersten Mal offenbarte ich aus freien Stücken, was aus mir geworden war. Ich sprach von meinem Fluch, von dem Blutdurst, der mich lenkte, von der Sonne, die mich verbrannte. Und ich sprach nicht wie ein Bittsteller. Ich sprach wie einst – mit Klarheit, mit Haltung, mit der Stimme eines Anführers.
Mein Charme rettete uns alle.
Sie hörten auf mich. Legten ihre Waffen nieder. Und schworen mir ihre Treue. Nicht nur als Verbündete, sondern als Freunde im Schatten. Es war ein Geschenk. Und eine Bürde. Denn wer Loyalität fordert, trägt Verantwortung.

Ein Leben in der Finsternis verlangt nach Masken.
Ich hatte begonnen zu spüren, wie gefährlich es war, Beziehungen zu pflegen. Früher oder später kamen Fragen. Wo bist du am Tag? Warum bleibst du stets im Schatten? Kann ich dich besuchen? Kann ich dir helfen?
Fragen, auf die es keine guten Antworten gab.
Banhem und Hannoel waren es, die mir halfen, diesen Schleier zu weben. Sie verstanden, dass ich eine neue Identität brauchte. Einen Namen, der schützt. Einen Namen, der führt. Einen Namen, der vergessen lässt.
So wurde ich Serapion.
Mit dem neuen Namen kam ein neuer Körper – dieselbe Haut, doch anders bewegt. Andere Worte, andere Kleidung, andere Absichten. Der Name war ein Schild. Aber auch ein Mahnmal. Denn mit jedem neuen Laut, den andere riefen, vergrub ich Magon tiefer in der Erde.

Der Hunger blieb.
Er war mein ständiger Begleiter, mein Schatten, mein inneres Tier. Ich jagte oft. Und die Art und Weise, wie ich jagte, sorgte für eine Kaltblütigkeit, die ich nicht wollte – und mit jeder Nacht wich ein Teil meiner Menschlichkeit. Ich wurde kälter. Gleichgültiger. Grausamer.
Ich brauchte Veränderung.
Statt ziellos zu töten, suchte ich jene, die der Glauben verlassen hatte – Seelen, die Halt suchten. Ich bot ihnen Antworten. Sprach von innerer Stärke. Zeigte ihnen ein Stück der Macht, die ich besaß. Nur ein Tropfen ihres Blutes. Nur ein Blick in ihre Tiefe. Und sie glaubten. Nicht an mich – sondern an das, was sie selbst sehen wollten.
Doch selbst das war mühsam. Die Wahrheit – oder das, was ich als solche verkaufte – kostete viel Zeit. Die passenden Opfer finden, die nicht so zahllos waren, wie ich glaubte. Ich musste kreativer werde. Ich passte meine Geschichten an: Liebeszauber, Krankheiten, Dämonen im Fleisch. Es war egal, was ich sagte. Wichtig war nur, dass sie mir glaubten. Ich sauge dir das Böse aus deinem Körper. Mit deinem Blute verzaubere ich die Person, die du liebst. Die Krankheit, die dich dahin siecht, kann ich dir nehmen.
Und sie glaubten mir.
Sie gaben mir ihr Blut. Ich gab ihnen Hoffnung.
Ein Handel, der beiden diente. Zumindest erzählte ich mir das.

Ich hätte es besser wissen müssen.
Ich hatte sie vergessen – Zamira. Ich hatte geglaubt, sie hinter mir gelassen zu haben. Doch sie war nicht nur eine Kriegerin. Sie war eine Planerin. Eine Intrigantin. Und sie hatte ihre Rache gut vorbereitet.
Über Wochen, vielleicht Monate hatte sie meine Enttarnung geplant. Und dann geschah es – leise, endgültig, unwiderruflich. Meine Natur wurde offenbar. Mein Geheimnis war enthüllt. Und ich hatte keine Möglichkeit, es ungeschehen zu machen.
Ich floh.
Ich musste alles zurücklassen. Meine Kammer. Meine Zuflucht. Die Straßen meiner Kindheit. Die Erinnerungen an Amital, an Gisgo. Alles.
Alles – bis auf meinen Sichelstein.
Und Banhem. Und Hannoel.
Sie waren es, die mir zur Flucht verhalfen. Sie schlugen vor, Karthago nicht nur zu verlassen, sondern alles hinter uns zu lassen. Ein neues Land. Ein neuer Anfang.
Wir reisten bei Nacht. Ruhten bei Tag. Ich vergrub mich in der Erde, während sie über mich wachten. Die Tage waren lang, das Tierblut schal, meine Kräfte schwanden. Ich weigerte mich, von ihnen zu trinken. Ich kannte den Preis.
Wochen vergingen.
Dann fanden wir sie – jene Stadt, die zu diesem Zeitpunkt Gádir genannt wurde. Ein Ort am südlichsten Rand des Festlands, wo das Meer rauschend Geschichten trug, die niemand hören wollte.
Dort wollten wir bleiben.

Gádir war anders. Der Wind roch salziger. Die Sprache war fremd. Die Gesten wild. Wir sprachen mit Händen und Blicken, mit gebrochenen Worten und erfundenen Namen.
Denn Zamiras Verrat hatte mich misstrauisch gemacht. Wie weit reicht ihr Einfluss? Wie lang ist ihr Atem der Rache?
So nannten wir uns neu. Banhem und Hannoel wurden andere Männer. Und ich? Ich wurde Sergio Parion. Ein Mann ohne Vergangenheit. Ein Schatten mit Mantel.
Aber ich merkte bald: Namen sind nur Schall. Sie bedeuten nichts, wenn sie nicht getragen werden von Erinnerung, von Menschlichkeit, von Sinn.
Und ich war müde, so müde davon, Bedeutung in Namen zu suchen, die längst gestorben waren.
Tell us about your thoughtsWrite message