Eintrag 03 | Schwelle zur Finsternis

Eintrag 03 | Schwelle zur Finsternis

Ich hätte es erwarten müssen.

Und doch war ich nicht vorbereitet, als ich ihr begegnete. Einer von ihnen. Einer von uns. Eine andere Kreatur der Nacht.

Die Frau trat aus der Finsternis wie aus einem Riss in der Welt. Ich war gerade auf der Suche nach meinem nächsten Opfer – mein Hunger drängte, nagte, brannte – da stand sie plötzlich da. Regungslos. Wissend. Ihre Augen hielten mich fest, als hätte sie mich schon lange erwartet. Ich hatte sie nie zuvor gesehen – und dennoch wusste sie, was ich war.

Sie stellte Fragen. Nicht bloß: „Wer bist du?“ – sondern: „Wer hat dich erschaffen?“ „Von welchem Clan stammst du?“ „Weiß der Fürst von deiner Anwesenheit?“ Worte, die mir nichts sagten. Ein Vokabular einer Welt, die ich noch nicht kannte.

Als ich zögerte, legte sich ein Schatten auf ihr Gesicht. Kein Zorn, sondern Pflichtgefühl – das spürte ich. Sie sagte, sie werde mich dem Fürsten bringen. Mit oder ohne mein Einverständnis.

Hätte sie nur höflich gefragt.

Ich widersetzte mich. Nicht aus Stolz, sondern aus Panik. Ich war nicht bereit, mich einem Fürsten zu stellen, dessen Namen ich nicht kannte. Ich zog meinen Dolch – Gisgars Geschenk – und verteidigte mich. Ich hatte geglaubt, sie sei leicht zu besiegen. Doch ich lag falsch. Ihre Bewegungen waren präzise, mühelos, voller tödlicher Erfahrung. Sie entwaffnete mich, ließ meinen Dolch auf das Pflaster krachen.

Und in mir regte sich erneut das Tier.

Es übernahm die Kontrolle.

Ich floh. Doch diesmal war es keine taktische Flucht – es war eine Flucht aus Angst. Das Raubtier spürte das mächtigere Tier in ihr. Dann spürte ich etwas Neues in mir, etwas Starkes. Die Dunkelheit nahm mich auf. Ich verschmolz mit ihr. Ich wurde übersehen, übergangen, vergessen – als sei ich Luft. Selbst die Menschen, an denen ich vorbeihuschte, sahen mich nicht.

zamira gegen magon

Ihr Name war Zamira.

Und sie ließ nicht locker.

Sie verfolgte meine Spuren, durchstöberte mein Leben, meine Vergangenheit, die Menschen, mit denen ich in Kontakt stand und stehe. In erschreckendem Tempo kam sie mir näher. Sie kannte bald die Wege, die ich bevorzugte, die Namen, denen ich vertraute. Und eines Nachts wusste ich: Sie war Gisgo auf den Fersen.

Ich eilte. Ich hoffte, rechtzeitig zu sein. Ich wollte ihn retten. Ich wollte ihm endlich die Wahrheit sagen – wer ich bin, was aus mir geworden war, warum ich nie wieder der Freund für ihn sein kann, der ich früher war. Ich wollte ihn fortbringen, irgendwohin, wo Zamira ihn nicht finden konnte. Doch ich kam zu spät.

Als ich bei ihm eintraf, war sie bereits dort. Sie stand in seiner Werkstatt, sprach ruhig, aber bestimmt auf ihn ein. Mein Dolch in Ihren Händen. Seine Stirn war schweißnass, seine Hände zitterten. Er verstand nicht, was geschah – doch er spürte die Bedrohung.

Und ich wusste, was kommen würde.

Sie hatte Schergen dabei – ähnlich loyal zu ihr wie die wenigen Tempelwachen zu mir. Ich hingegen war allein. Hilfe war zu weit. Zeit war zu knapp.

Ich hatte nur zwei Möglichkeiten. Entweder ich überließ ihn ihr – wissend, dass sie ihn brechen, ausquetschen und dann töten würde. Oder ich nahm ihm das Leben – schnell und ohne Leid, bevor sie es konnte.

Ich hasse mein neues Leben.

Schließlich trat ich in die Schatten, rief die Dunkelheit zu mir, verschmolz mit ihr. Dann schlich ich mich an Gisgo heran. Meine neue Klinge schnitt schnell und präzise. Er sah den Tod nicht kommen, das Geschenk welches ich ihm gab wird er nie verstehen. 

Zamira schrie auf, befahl ihren Schergen, mich zu fassen. Doch ich war längst auf dem Weg hinaus. Wieder floh ich, wieder verschwand ich. Die Gassen verschluckten mich, und ich ließ sie zurück – ihre Wut, ihre Schreie, meinen Schmerz.

zamira verhört gisgo

Der Tod Amitals lastete noch immer auf mir – nun kam Gisgos hinzu. Zwei Stimmen, die in der Stille meiner Kammer schrien. Zwei Schatten, die sich an mein Herz klammerten.

Ich fragte mich, ob ich ein Monster war. Ob ich es immer gewesen war. Oder ob man lernen konnte, den Fluch zu lenken, ihn zu kontrollieren. Ich sprach mir Mut zu. Sagte mir, ich hätte Gisgo damit Leid erspart. Doch der Gedanke half nicht.

Also wandelte ich die Schuld in Rache.

Ich war Zamiras Beute. Jetzt würde sie gejagt werden. Jetzt wird sie Meine Beute. 

Ich studierte sie, folgte ihr in der Dunkelheit. Beobachtete. Lauerte. Ich lernte, wann sie sich zeigte, wo sie sich aufhielt. In jener verhängnisvollen Nacht lernte ich ihre Schwäche kennen. Ihr Geliebter – ein Künstler namens Gustav Gravenstein. Er war ihr Licht.

Und ich werde die Finsternis für sie sein. 

Sie ließ ihn allein zurück. Mir war das Risiko bewusst. So kurz vor Sonnenaufgang. Doch sie würde damit nicht rechnen und es war meine Chance. Ich schlich mich ins Schlafgemacht. Seine Brust hob und senkte sich ruhig, der Atem flach, nichtsahnend. Ich stand lange da, bevor ich den Dolch hob. Es sollte schnell gehen. Kein Leiden. Kein Spiel.

Nur ein Ende.

Ich ließ keine Spuren zurück. Verschwand, noch bevor sein Blut kalt geworden war. Und in den darauffolgenden Nächten war ich still, vorsichtig, aufmerksam.

Ich hoffte, dass Rache mir etwas geben würde. Genugtuung. Erlösung. Wenigstens Ruhe.

Aber es blieb nichts.

Keine Erleichterung. Kein Frieden.

Nur die Schuld, die schweigend in meiner Kammer saß.

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